Die Vordere Bremsleuchte

Medizinisch-Traumabiomechanische Stellungnahme

Dr. med. Wolfram Hell, Traumabiomechanik MBU Medizinisch-Biomechanische Analyse, Vorsitzender Gesellschaft für Medizinische und Technische Biomechanik GMTTB e.V., Wendelsteinstraße 32a D-82031 Grünwald Deutschland, Tel. +49 89/693770-86, Fax. +49 89/693770-87 , Mobil: +49 171/2220888 , Wolfram.Hell@t-online.de

Gegenstand dieser Stellungnahme ist die Diskussion am 1. März 2018 am Flughafen Berlin Tegel über die Sinnhaftigkeit einer dritten vorderen Bremsleuchte an Fahrzeugen.

Unterlagen

Feldstudie zur Erprobung einer Vorderen Bremsleuchte am Flughafen Tegel (Universität Bonn Januar 2018)

A. Fragestellung

  1. Ist es in der Theorie zu erwarten, dass bei einer relevanten Anzahl an Unfallopfern mit Schädel-Hirn-Trauma oder HWS Verletzungen diese Verletzungen medizinisch erheblich leichter ausgefallen wären oder hätten vermieden werden können, wenn die Opfer vor dem Anprall des Unfallverursachers gewarnt gewesen wären und sich auf diesen Anprall hätten einstellen können?
  1. Wenn die Bewertung positiv ausfällt:
    • Wie hoch ist die Anzahl mit ZNS/HWS Verletzungen/Traumata?
    • Wie hoch ist der Volkswirtschaftliche Schaden (Krankheit und Ausfall)?
    • Lässt sich zumindest grob bewerten, wie viele leichte Fälle vermieden, wie vie- le mittelschwere Fälle zu leichten Fällen, wie viel Schaden/ Geld damit einge- spart werden könnte? (Hinzu kommt stets noch der emotionale Nutzen der Be- troffenen bei Verringerung der Verletzungsschwere)
  1. Welchen Effekt hätte eine solche Warnung auf Pkw-Insassen? Trifft die Hypothe- se, dass sich über die Warnung und ein erhöhtes Vorbereitet Sein (=Zusammenkauern, Halsmuskeln spannen etc.) HWS-Folgen lindern lassen, biomechanisch zu? Man stelle sich den Unterschied vor zwischen einem Körper, der durch den Aufprall hin- und her geschleudert wird, weil er in sich ganz locker ist und einem Körper, der sich steif gemacht hat und daher zumindest weniger hin- und her geschleudert

 

B. Stellungnahme

Zu Frage 1:

Prinzipiell ist natürlich davon auszugehen, dass mit einer Warnung des Unfallopfers die Unfallschwere geringer ausfällt oder der Unfall sogar ganz vermeiden werden kann.

Dennoch sind die „typischen“ Fußgängerunfälle (PKW/LKW gegen FG) häufig Kinder (1- 12 Jahre) oder ältere Mitbürger (> 65 Jahre, häufig > 80 Jahre). Bei den „normalen“ Fuß- gängern besteht die höchste Wahrscheinlichkeit für die Wirksamkeit eines solchen Sy- stems, die anderen Gruppen lassen sich am besten durch aktive Notbremssysteme mit Fußgänger Erkennung bei Tag und Nacht beeinflussen.

Abb. 1: Fußgängeralter, Population und Unfallrisiko (Österreichische Daten TU Graz 2015)

Eine frühere Auswertung meines Kooperationspartners ADAC UFO ergibt folgende Ver- letzungsschwerpunkte: Kopf, Thorax, Abdomen, WS und Becken sind besonders gefähr- det bei lebensbedrohlichen Verletzungen. Logischerweise ist die Anprallgeschwindigkeit und die Anprallkinematik (3 Phasen bei Pkw Anprall) mit der Verletzungsschwere der FG proportional.

Auch die Lichtverhältnisse können entscheidend sein, da viele FG Unfälle in Dunkelheit auf unbeleuchteter Straße passieren.

Abb. 2: Verletzungsmuster FG ADAC Unfallforschung (2013)

Somit kann prinzipiell von einem Effekt einer dritten vorderen Bremsleuchte ausgegangen werden, dieser sicher positive Effekt müsste aber noch an Realunfallmaterial theoretisch und mit rekonstruierten und ggf. simulierten Unfällen belegt und vorsichtig quantifiziert werden.

In Zukunft können auch z.B. autonome selbstbremsende Systeme prinzipiell auch eine grüne Lampe erkennen und somit ein Bremsen oder Nichtbremsen des gegnerischen Fahrzeuges.

Prinzipiell beseht natürlich auch ein Effekt bei Fahrrad- und Motorradunfällen.

Zu Frage 2:

Prinzipiell kann eine retrospektive Studie an realen FG Unfällen bestimme vorher zu defi- nierende Fragestellungen beleuchten. Hier bieten sich mehrere Kollektive an

  • FG Unfälle mit Todesfolge (Schwerstunfälle aus der Datenbank der LMU
  • FG Unfälle mit Schwerverletzten aus der Datenbank der ADAC UFO Weiter sollte differenziert werden nach
  • Pkw
  • Lkw/Bus/Kleintransporter

Der Volkswirtschaftliche Schaden lässt sich ebenfalls (sehr grob) abschätzen. Eine detail- lierte Auswertung mit der sog. ICS (Injury Cost Scale) wird erst begonnen. Je nach Auf- wand sind ggf. auch weitere Aussagen möglich (Reduktion von leichten FG Unfällen, ect.).

Realistisch erscheint eine Differenzierung

  • Vermeidbarkeit
  • teilweise Vermeidbarkeit (Reduzierung) und
  • kein Effekt

Anmerkung:

Leider sind Politiker/Versicherer relativ träge, auch europäische Normen haben eine lange Vorlaufzeit (bis zu 20 Jahre). Der technische Fortschritt gerade im Übergang zum Auto- matisierten Fahren ist wesentlich schneller, relevant sind deshalb Meinungsbildner und Verbrauchertester insbesondere in Schweden, England, Schweiz, Niederlande, Österreich und Deutschland.

Hier sollte eine Informations- und Dialogoffensive betrieben werden, gerade Schweden wird von anderen Ländern (mit einer Verzögerung von ca. 5-10 Jahren) gerne kopiert.

Zu Frage 3:

Die Pkw Insassen wären „vorgewarnt“ dass ein ungebremstes oder spät bremsendes Fahrzeug auf sie zukommt.

Dieses hat nach internationalen Forschungsstudien einen positiven Effekt. Beispielsweise haben überraschte Beifahrer ein höheres Verletzungsmuster als informierte und dadurch muskulär vorgespannte Fahrer. Selbst Ausweichbewegungen können vom Fahrer oder später automatischen Fahrsystemen besser geplant werden.

Beim Aufprall eines „ungebremsten“ Lkw auf ein Stauende kann der Fahrer ggf. ebenfalls noch eine Ausweichbewegung einleiten.

Sogenannte HWS Verletzungen treten bei ca. 50-70% aller Pkw Unfälle mit Verletzten auf. Hier hat eine Vorwarnung, was in Freiwilligenversuchen auf dem Testschlitten geprüft wurde, ebenfalls einen positiven verletzungsreduzierenden oder vermeidenden Effekt. Al- lein hier beträgt der Volkswirtschaftliche Schaden in Deutschland ca. 500 Mio. Euro/Jahr. Es wird von ca. 200.000 Fällen pro Jahr ausgegangen. Eine Verringerung um z.B. 10% hätte demnach einen beträchtlichen Effekt.

Ebenfalls wären bei noch schwereren Verletzungen AIS 2+ die volkswirtschaftlich pro Ver- letzung noch teurer sind Reduktionen anzunehmen.

Die EU hat für die nächste Dekade (2020 – 2030) besonders die Verringerung von Schwerverletzten im Visier.

Moderne Pre-Safe ® Systeme (z.B. Mercedes Benz) haben heute schon eine Rundumüb- erwachung (Front, Seite, Heck). Koppelt man diese Sensorik mit einem Sensor zur Er- kennung der vorderen Bremsleuchte könnten diese Systeme ihre Ausweichbewegungen noch besser abstimmen.

Abb. 3: Mercedes S Klasse Sensoren (Daimler)

Abb. 4: Mercedes S Klasse Pre Safe Plus (Daimler)

PRE-SAFE: Aktivierung der vorderen Gurtstraffer aufgrund von Radarsignalen

Unvermeidbarer Kreuzungsunfall
Aktivierung de PRE-SAFE -Gurtstraffer auf Basis der Informationen des Nahbereichsradars

Unvermeidbare Kollision mit dem Gegenverkehr
Aktivierung der PRE-SAFE -Gurstraffer auf Basis der Informationen des Nahbereichsradars

Abb. 5: Mercedes S Klasse Pre Safe (Daimler)

Abb. 6: Verletzungskinematik Pkw Insasse Front, Heck-, Seitenkollision (Kodsi Forensic En- gineerung USA)

Gerade Frontal- und Seitenkollisionen haben ein hohes Verletzungsrisiko auch für ange- gurtete und mit Airbags geschützte Insassen.

Bei Heckkollisionen kommt es hauptsächlich zu HWS-Distorsionen diese sind zwar nicht lebensbedrohlich (AIS 1 Verletzungsschwere) jedoch sehr häufig (50-70% aller Pkw Kolli- sionen) und zu 10% sogenannte Langzeitfälle mit > 6 Wochen Berufsunfähigkeit.

Der Effekt einer „dritten Bremsleuchte“ und das Präventionspotential sollte demnach auch anhand der realen Pkw Unfallgeschehens eingehend wissenschaftlich untersucht werden.

GetöteteVerletzteSchwerverletzteLeichtverletzte
199111.300505.535131.093374.442
199210.631516.797130.351386.446
19939.949505.591125.854379.737
19949.814516.415126.723389.692
19959.454512.141122.973389.168
19968.758493.158116.456376.702
19978.549501.094115.414385.680
19987.792497.319108.890388.429
19997.772521.127109.720411.577
20007.503504.074102.416401.658
20016.977494.77595.040399.735
20026.842476.41388.382388.031
20036.613462.17085.577376.593
20045.842440.12680.801359.325
20055.361433.44376.952356.491
20065.091422.33774.502347.835
20074949431.41975.443355.976
20084.477409.04770.644338.403
20094.152397.67168.567329.104
20103.648371.17062.620308.720
20114.009392.36568.985323.380
20123.600384.37866.279318.099
20133.339374.14264.057310.085
20143.377389.53567.732321.803
20153.459393.43267.706325.726
20163.206396.66667.426329.240

Abb. 7: Verkehrsunfallstatistik Deutschland 1991-2016

Der Anteil der Schwerverletzten bleibt seit ca. 5 Jahren konstant, vorsichtig geschätzt ist von ca. 10.000 Schwerstverletzten (= Intensivstation) pro Jahr in Deutschland auszuge- hen. Eine differenzierte Betrachtung hinsichtlich Effektivität einer dritten Bremsleuchte scheint hier indiziert, ggf. auch mit Verkehrssimulationsmodellen.

Literatur

  1. Bachler, U: Analyse von Fussgängerunfällen, Masterarbeit TU Graz (2015)
  2. Unger, T.: Unfälle mit Fußgängern , ADAC Unfallforschung (2013)
  3. “Bracing” for The Future of Injury Biomechanics, Jul 20, 2016 | Biomechanics & Per- sonal Injury, Safety; Kodsi Forensic Engineering
  4. Der G, Deary IJ, Age and sex differences in reaction time in adulthood: Results from the United Kingdom Health and Lifestyle Survey. Psychol Aging 21: 62–73. (2006)
  5. Bailey, M.N, et al. Data from Five Staged Car to Car Collisions and Comparison with Simulations. SAE paper no. 2000-01-0849. (2000)
  6. Beeman, S.M. et al. Effects of Bracing on Human Kinematics in Low-Speed Frontal Sled Tests. Annals of BiomedEng 39(12): 2998-3010. (2011)
  7. Schoettle, B. and Sivak, M. “A preliminary analysis of real-world crashes involving self- driving vehicles”, report no: UMTRI-2015-34.
  8. Widder, Bernhard et al.: Beurteilung der Kausalität bei gutachtlich wichtigen Krank- heitsbildern, HWS-Beschleunigungsverletzungen

Referenz-Reihe Neurologie: Methoden: Begutachtung in der Neurologie DOI: 10.1055/b-0034-20112 (2011)

Diese Stellungnahme wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt.